Interview von Étienne Schneider mit dem Tageblatt

"Wir haben das Land richtig aufgestellt"

Interview: Tageblatt (Claude Clemens)

Tageblatt: In einem Satz bitte: Ihre Zwischenbilanz als Vizepremier...

Étienne Schneider: Ich stelle fest, dass zur Halbzeit nach wie vor der Teamgeist besteht und eine extrem gute Atmosphäre herrscht; es war ein schwieriger Start, aber ich glaube, in der zweiten Hälfte ist die Situation auch einfacher.

Tageblatt: ...als Wirtschaftsminister...

Étienne Schneider: Als die Legislaturperiode anfing, sah vieles düster aus, für die Luxemburger Wirtschaft und auch für den Finanzplatz. Aber wir haben es hinbekommen, dies in eher positive Aussichten umzuwandeln, und ich blicke deshalb auch positiv gestimmt in die Zukunft, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht.

Tageblatt: ...als Verteidigungsminister...

Étienne Schneider: Wir standen unter enormem Druck seitens der NATO-Partner, was die gemeinsame Verteidigungspolitik angeht; wir wurden als Schmarotzer dargestellt, weil wir die Letzten in puncto Budget waren.

So haben wir die mutige, aber schwere Entscheidung getroffen, unser Verteidigungsbudget heraufzusetzen, von 0,4% auf 0,6% des BIP bis 2020 - darauf achtend, dass es auch, wenn möglich, einen "retour économique" für Luxemburg gibt, anstatt dass, wie bisher, das Geld immer "ins Ausland" floss. Ich nenne als Beispiel die Wiederinstandsetzungsarbeiten auf Herrenberg und Findel sowie LuxGovSat, unser Joint Venture mit SES.

Tageblatt: ...als Polizeiminister...

Étienne Schneider: Ich war mir nicht bewusst, wie kompliziert die Reform sein würde, weil es so viele unterschiedliche Interessen im Polizeikorps gibt und diese weit auseinanderklaffen. Es war nicht einfach, dies unter einen 'Hut zu bekommen, und ich bin froh, dass ich letzte Woche das "Arrêté de depôt" für den Text unterschrieben habe.

Was das Personal angeht, will ich betonen, dass wir derzeit eine maximale Einstellungspolitik betreiben; das ist die richtige Richtung, aber es braucht Zeit, bis die Wirkung einsetzt.

Tageblatt: ...und als LSAP-Mitglied...

Étienne Schneider: Ohne auf unnötige Diskussionen eingehen zu wollen, wer von den drei Parteien sich "mehr durchsetzt", finde ich, dass wir wichtige Akzente gesetzt haben. Wir sorgen dafür, dass der Reichtum bei den Menschen ankommt - dies ist die erste Steuerreform, die so sozial ist, wo das Geld "unten" ankommt. Das allein ist schon wichtig. Auch die Trennung von Kirche und Staat möchte ich hervorheben.

Aber wir sind ein Team, alle drei Partner sind gleichberechtigt. Von "durchsetzen" oder so reden ist Quatsch. Jedes Regierungsmitglied diskutiert bei allem mit, vorher war der Ministerrat nur noch ein Abnicken der Tagesordnung. Ich glaube, das können Ihnen auch einige CSV-Mitglieder der vorigen Regierung bestätigen. Jetzt wird dort wirklich diskutiert, um zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen. Die Arbeitsweise unter Xavier Bettel ist definitiv besser als unter Jean-Claude Juncker.

Tageblatt: Wie viel Prozent des Koalitionsabkommens würden Sie als abgehakt bezeichnen? Was bleibt das Wichtigste auf der To-do-Liste?

Étienne Schneider: Das ist eine schwierige Frage, ich würde mal sagen: bis Ende des Jahres sind alle heiklen Dossiers entweder abgehakt oder zumindest auf dem Instanzenweg. Wichtig ist deshalb erstens, alles so schnell wie möglich durch den Instanzenweg zu bekommen.

Dann die Ausarbeitung des Budgets 2017, mit der Umsetzung der Steuerreform.

Und schließlich unsere Vision für Luxemburg, an der wir seit Amtsantritt arbeiten und die Sie ja bereits im Gespräch mit François Bausch erörtert haben (siehe "T" vom 29. August, Anm. d. Red.). Diese wird im Herbst von uns bei verschiedenen Gelegenheiten, die ich ja nicht mehr aufzählen muss, dargelegt.

Es geht darum, wie wir Wachstum sehen in Luxemburg, wie wir eine wachsende Bevölkerung managen, ohne dass dies negative Konsequenzen für die Lebensqualität hat. Wir brauchen keine Angst zu haben vor Wachstum, und wir brauchen auch keine Angst zu haben vor Bevölkerungswachstum. Das Wie ist entscheidend, da ist Landesplanung wichtig, der Rifkin-Prozess, wie steht es um unsere Wettbewerbsfähigkeit etc. "Dat kënnt alles bis November op d'Tapéit."

Wir haben mit einem Zukunftstisch auch nicht auf die CSV gewartet, von denen ist noch kein Vorschlag gekommen. Hier heißt es vom Parteipräsident in einem Interview: Wir dürfen nicht wachsen. In einem anderen Interview vom Fraktionschef: Die Steuerreform geht nicht weit genug für Unternehmen. Wenn wir Betriebe noch weniger besteuern würden, gibt es ja aber wieder mehr Wachstum! Also was will die CSV? Und wie würden wir mit den Weniger-Einnahmen umgehen, wie diese ersetzen?

Tageblatt: Was ging in den ersten zweieinhalb Jahren völlig in die Hose?

Étienne Schneider: Das Referendum, das muss man so sagen. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Wir haben Fragen gestellt, die wichtig waren im Hinblick auf die Verfassung. Aber das Timing war nicht gut. "258 Mol hu mer jidderee rose gemaach mam Zukunftspak, an dann de Referendum ..." Das war blauäugig.

Wie man auch am Ukraine-Referendum in den Niederlanden und dem Brexit-Referendum in Großbritannien sah: Da wird nicht immer auf die Fragen geantwortet, sondern die Stimmung gegenüber der Regierung ausgedrückt. Es gab ja auch Umfragen vor dem "Zukunftspak", wo die Antwort auf zwei Fragen positiv war.

Tageblatt: Was lief in den ersten zweieinhalb Jahren überraschend glatt?

Étienne Schneider: Die Sanierung des Staatshaushalts; die Umgestaltung des Finanzplatzes; dass das Wachstum so schnell zurückkam. Die Diversifizierung unserer Wirtschaft geht total in die richtige Richtung. Die Budget-Sanierung erlaubte uns diese Steuerreform. Das ist positiv, ging aber eben nicht von selbst.

Tageblatt: Das "Zukunftspak" brachte den gewünschten Effekt, war also aus Ihrer Sicht richtig. Gleichzeitig, wie auch schon Mitte Juli im LW, bezeichnen Sie es als Fehler. Erklären Sie das nochmal.

Étienne Schneider: Es geht um die Art und Weise. Die 256 Maßnahmen plus die 0,5 %-Steuer plus die TVA-Erhöhung... dann eine positive Stimmung zu erwarten, war ein Fehler. Wir dachten, wenn wir durch die Maßnahmen jedem nur ein klein Bisschen abverlangen, wird jeder die Sparmaßnahmen leichter akzeptieren. Das Gegenteil war der Fall: Jeder war böse mit uns.

Wenn ich es heute noch einmal und alleine entscheiden müsste, würde ich es über verschiedene punktuelle Maßnahmen machen, z.B. Steuern erhöhen. Aber ich stehe zum "Zukunftspak", ich habe ihn mit ausgearbeitet und stehe auch dafür gerade.

Tageblatt: D.h. Sie hätten Steuern erhöht, und nun gibt es über Steuern etwas "zurück"?

Étienne Schneider: Vom heutigen Standpunkt aus gesehen macht das natürlich keinen Sinn. Aber damals schon: Die Zahlen waren nicht gut, wir mussten das budgetäre Gleichgewicht wiederherstellen. Auch die Opposition stellte die Notwendigkeit des Sparens ja nicht in Frage. Die Frage war die des Weges. Heute würde ich z.B. am oberen Ende der Steuertabelle eine Stufe hinzufügen, und v.a. bei den "frais de fonctionnement" vom Staat sparen.

Aber ich wehre mich gegen die Behauptung, wir würden jetzt "nur zurückgeben", was wir vorher "genommen" haben. Die Steuerreform ist so, dass die sozial Schwachen und der Mittelstand am meisten profitieren, also findet eine Umverteilung statt!

Tageblatt: Von den drei Koalitionären gibt es bei der LSAP definitiv den meisten internen Gegenwind. Wie kommt's?

Étienne Schneider: Wo sehen Sie den? Ich bin in vielen Parteigremien und sehe das nicht so. Wir haken unsere Wahlversprechen eins nach dem anderen ab, so wie es im Koalitionsprogramm steht. Ich finde, dass wir gute und zufriedenstellende Arbeit leisten. Es gibt ja auch Parteikongresse: Die letzten heftigen Diskussionen, die wir hatten, gingen um die Steuerreform und TTIP. Mit der Steuerreform ist die Partei einverstanden, und TTIP könnte ja nun zu einer "Totgeburt" werden... (siehe auch S. 7 und Tageblatt.lu, Anm. d. Red.). Aber unsere Linie bei dem Thema war nie, einfach blind Ja zu sagen.

Tageblatt: Bezüglich der Umfragewerte: Wird sich die LSAP nach den nächsten Wahlen noch als Volkspartei bezeichnen können?

Étienne Schneider: Mit Sicherheit ja. Denn die nächsten Wahlen werden anders ausgehen als die letzten Umfragen. Als wir angetreten sind, standen alle Zeichen auf negativ. Eine Reihe Maßnahmen mussten deshalb getroffen werden. Man bekommt nicht alles geschenkt. Wir haben die Wirtschaft diversifiziert und dafür gesorgt, dass Luxemburg als Finanzplatz von allen möglichen grauen und schwarzen Listen herunterkam. Ich habe mit vielen Leuten aus großen Beratungsunternehmen gesprochen, und die haben alle davor gewarnt, was den automatischen Informationsaustausch angeht: Das könnte bis zu 12.000 Arbeitsplätze kosten. Aber das Gegenteil ist eingetreten! Unsere neue Attraktivität hat sogar mehr Arbeitsplätze gebracht, das Wachstum ist wieder da. Auch deshalb können wir nun etwas zurückgeben, und ich glaube, die zweite Hälfte der Legislaturperiode wird besser laufen.

Die Steuerreform, wie sie im Regierungsprogramm vorgesehen war, war kostenneutral. Aber wir haben die Situation schneller in den Griff bekommen als geplant, und deshalb ist es nun möglich, den Gegenwert von 1% des BIP an die Bevölkerung zu geben. Dazu kommen die Maßnahmen in der Familienpolitik, die Investitionen im Transportbereich usw.

Alles in allem, denke ich, werden die Menschen merken, dass dies die richtigen Entscheidungen waren. In der Politik gibt es eben nicht immer gleich und sofort sichtbare Resultate.

Tageblatt: Der Wirtschaftsminister dürfte im Moment sehr zufrieden sein? Investitionen und Firmenzentralen kommen ins Land; alle Indikatoren, u.a. Wachstum und Arbeitslosigkeit, scheinen auf Grün zu stehen.

Étienne Schneider: Er ist zufrieden. Ich denke, im Moment steht wirklich alles auf Grün, d.h. wir haben das Land richtig aufgestellt. (Schneider geht auf Investitionsausgaben ein/siehe separaten Text; Anm. d. Red.) Heute Abend (am Montag, Anm. d. Red.) fliege ich nach Singapur, da geht es u.a. um einen Deal zwischen den Postgesellschaften beider Länder und Cargolux. Am Morgen empfing ich den indischen Stahlminister mit einer Delegation; dieser gab dem geplanten Joint Venture zwischen ArcelorMittal und Steel Authority of India (SAIL) seine volle Unterstützung. Die Zusammenarbeit beider Unternehmen im Bereich der Automobilindustrie wird auf eine Gesamtinvestition von einer Milliarde Dollar geschätzt. Es gab auch Gespräche mit Paul Wurth. Ich sehe keine Gründe, wieso sich das alles in den nächsten Jahren grundlegend ändern sollte.

Tageblatt: Sie haben den Rifkin-Prozess bereits angesprochen: Können Sie schon über konkrete Ergebnisse sprechen?

Étienne Schneider: Nein, aber wie gesagt, bis November wird in puncto dritter oder meinetwegen auch vierter industrieller Revolution alles auf dem Tisch liegen. Die Haupt-Schwerpunkte stehen ja fest: Informationstechnologien, grüne Energie, grüne Mobilität, "shared" und "circular economy".

Besitz wird in Zukunft nicht mehr so wichtig sein. "D'Jugend wäert sech an Zukunft iwwerleeën, op se e Prêt mécht fir eng Blechkëscht, déi och nach Assurance kascht, déi mai steet, wéi se fiert, an déi, wann een en Appartement keeft, och nach 50.000 Euro fir eng Stellplaz kascht." In Zukunft wird man die Mobilität kaufen, nicht das Auto. Das gilt auch für Materialien. Das Aluminium des Fensters hinter Ihnen könnte in Zukunft beispielsweise ein Fonds besitzen. Eine Firma "mietet" dieses und erledigt die Verarbeitung, hin zu einem Fenster, und für diesen "Service" zahlt der Kunde, nicht mehr für den Besitz. Beim Beispiel Auto/Mobilität kommt dann auch schon ICT ins Spiel: übers Smartphone kucken, wo was frei ist... Dazu dann die "circular economy": Alles ist grundsätzlich wiederverwertbar. Es wird keinen Abfall mehr geben, bzw. weniger.

Das sagt den Leuten heute noch nicht so viel, aber es ist die Zukunft. Wir leben in einer extrem spannenden Zeit. Deshalb ist mir auch nicht bange vor Wachstum. Und die 1,1-Millionen-Einwohner-Debatte ist die falsche Debatte, davon sind wir noch weit weg. Wir hatten auch mal eine 700.000-Einwohner-Debatte... und da sind wir nun bald angekommen.

Tageblatt: Ist das nicht alles vielleicht zu visionär für Luxemburg und "mir wëlle bleiwen, wat mir sinn"?

Étienne Schneider: Ich deute diesen Spruch ja so: Wir wollen so visionär und so vorausschauend bleiben wie bisher! Auch die Stahlindustrie war visionär in einem Agrarstaat. Es brauchte viel Immigration, aber Luxemburg wurde reich dadurch. Als dies nicht mehr funktionierte, kam der Finanzplatz. Auch darauf hat nichts hingedeutet. Oder die Satelliten. Da traute sich keine Versicherung ran, der Staat musste die Garantien leisten. Sehen Sie sich mal die Chamber-Debatten von damals an, da ging es um die Risiken, wenn so ein Satellit auf die Erde fallen würde... Und mit "SpaceResources.lu" sind wir nun wieder beim Weltall. Die Initiative wird jetzt schon positiv bewertet.

Wir dürfen nicht auf die anderen warten, wir müssen versuchen, immer eine Handbreit weiter zu sein, uns etwas zu trauen. Das geht, weil wir klein sind, alles ist überschaubar, und wir müssen nicht zuerst noch mit Bundesländern, Regionen o.ä. diskutieren. Und alle diese wirtschaftlichen Entwicklungen waren ja immer zugunsten von der Bevölkerung: Wir haben einen Lebensstandard, wie es ihn sonst nirgendwo gibt.

(...)

Tageblatt: Träumt der Privatmensch Etienne Schneider davon, einmal in den Weltraum zu fliegen?

Étienne Schneider: (lacht) Ich bin nicht schwindelfrei... (lacht erneut). Um es humoristisch zu formulieren: Ich glaube, so mancher Oppositionspolitiker würde sich wünschen, ich würde mit einem One-Way-Ticket ins Weltall fliegen - aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Ich denke, das "SpaceResources"-Programm ist auf lange Sicht eine gute Sache. Viele klopfen schon bei uns an, heute (am Montag, Anm. d. Red.) hat sich Indien interessiert gezeigt. Im Herbst treffe ich noch Deutschland, in Frankreich gibt es ein Gutachten an Premierminister Valls, das Luxemburg als gutes Beispiel darstellt. "Et mécht Sënn, och wa vill Leit mengen, ech hätt se net méi all."

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